Träum schön

Träume sind was Feines. Jetzt gerade träum ich zum Beispiel davon, ins Bett zu gehen. Seit Corona träumen die Menschen vogelwilde Sachen. Auf Instagram gab es neulich eine Umfrage dazu: „Was träumt ihr seit Corona eigentlich nachts?“ Zwei der Antworten sehen Sie links und die klingen gar nicht mal so entspannt… Mir ging das vor allem am Anfang auch so. Ich kann mich noch an die Nacht vor dem ersten Gottesdienst nach dem ersten langen Lockdown erinnern. In meinem Traum stand ich vorne, ohne Maske und die Kirche war brechend voll. 300 Leute waren da. Früher ein Traum, heute ein Alptraum. Niemand trug eine Maske und alle kamen mit erhobenen Händen auf mich zu. Der beste Gruselfilm hätte da nicht mehr mithalten können. Morgens war ich ziemlich kaputt und auch ein bisschen erschüttert. Darüber, wie tief sich die Pandemie in mein Unterbewusstsein vorgearbeitet hatte.

Nachdem ich die Umfrage entdeckt hatte, habe ich meine eigene gestartet. Ich bin bei den Träumen aber einen Schritt weiter gegangen. Dazu habe ich Menschen in verschiedenen Lebenssituationen gefragt: „Sag mal, wie ist das denn bei dir? Hat Corona deine Träume verändert, also die großen?“ Das war spannend.

Meine jüngeren Befragten haben vorher oft so geträumt, wie man das in diesem Alter eben tut. Völlig realitätsfern. Das waren Träume von der großen weiten Welt und einem Jahr Backpacker-Leben in Neuseeland. Jetzt bekommen die Träume mehr Kontur und sie müssen vor allem die Realitätsprüfung aushalten: Wieder im Klassenzimmer sitzen, den Studienabschluss schaffen, eine Familie gründen. Sind das dann noch Träume? Oder gibt es bloß noch Ziele?

Die „mittelalten“ Menschen hatten schon vorher handfestere Träume: Im Beruf zufrieden sein. Wenn das nicht der Fall ist, vielleicht nochmal wechseln. Oder gar schon die Zeit im Ruhestand planen, mit schönen Reisen und neuen Hobbys. Jetzt dominiert der Wunsch nach Familie, nach Zeit, die man im eigenen Umfeld mit den Liebsten verbringt. Aber sind das noch Träume? Sind das nicht Werte, die plötzlich wichtig werden?

Und die Alten? Von denen habe ich den Kopf am meisten zurechtgerückt bekommen. Nicht, weil sie keine Träume mehr haben. Genau das Gegenteil ist der Fall. So manches Ziel ist erreicht, Pläne längst umgesetzt. Haus gebaut, Kinder bekommen, Rente schön. Wer alles erreicht hat und zufrieden ist, kann gut und gern wieder träumen. Und das fand ich besonders spannend: Der träumt dann nicht nur von morgen, sondern auch vom Gestern. Besonders hat mich der Satz berührt: „Unsere Träume waren damals schon ganz andere. Bloß keinen Krieg mehr, das haben wir uns mehr gewünscht als alles andere.“ Und dann erzählten sie davon, wie gern sie jetzt leben und wie gut sie es doch eigentlich immer hatten und ihre Kinder und Enkel gleich mit. Das hat mich beeindruckt. Ich hätte gedacht, dass gerade ihnen die Einsamkeit, die sie seit Corona oft spüren, das Träumen schwer macht.

Nach diesen Gesprächen musste ich aber an einen ganz optimistischen Vers denken, der bei uns Evangelischen oft in der katholischen Versenkung verschwindet. Im 1. Makkabäerbuch 14,9 steht:

Auf den Plätzen saßen die Alten; alle erzählten von ihrem Glück.

 

In den Versen davor und danach erfahren wir, dass sie glücklich sind, weil der Krieg vorbei ist. Ihre Söhne genießen den Frieden, die Enkel spielen ohne Furcht auf den Straßen. Und mittendrin die Alten, die von ihrem Glück erzählen. Ist das nicht eine herrliche Vorstellung? Wie zwei Opas auf dem Bänkle sitzen, die Hände gemütlich vor dem Bauch verschränkt. Oder die beiden gnitzen alten Damen, die kichernd die Köpfe zusammenstecken, weil sie an die Backfischzeiten zurückdenken, daran wie sie den Opa neben sich um den Finger gewickelt haben. Sie erzählen vom Glück, das sie im Leben hatten und stecken damit ihre Kinder an. Und gemeinsam leben sie von einer tiefen Lebensfreude, weil sie wissen, wem sie alles zu verdanken haben.

Mit dem Glauben ist das für mich ähnlich. Für mich ist er fest mit meinen Lebensträumen verbunden. Und ich denke, das ist kein Zufall. Unser Glaube ist darauf ausgelegt, am Glück der Alten zu wachsen und uns am Leben zu halten. Als Christen erinnern wir uns bewusst an das Glück der ganz Alten: Wir erzählen die Geschichten von Abraham, Noah oder Mose weiter. Wir tun das, um zu zeigen: Unser Glaube kennt die ganz großen Träume der Menschen. Im Frieden und in Freiheit zu leben, ohne Sorgen um das eigene Leben, mit einem Begleiter, auf den absolut Verlass ist. Dieser Glaube, der trägt Menschen auch durch die tiefsten Krisen. Weil sie wissen: Auch Abraham kam eines Tages an, die Sintflut hat auch wieder aufgehört und Mose hat die Israeliten in die Freiheit geführt. Unser Glaube blendet die Durststrecken nicht aus, sondern führt hindurch und träumt mit uns von einer guten Zukunft.

Manchmal habe ich Angst davor, von einer Welt ohne Corona zu träumen. Weil ich sehe, wie zäh das Impfen vorangeht, weil ich spüre, wie sich gewisse furchtsame Verhaltensmuster schon eingeschliffen haben, weil ich Sorge habe, dass ich nie wieder mit 500 Menschen auf wenig Raum dicht an dicht stehen will, selbst wenn ich es darf. Da traue ich mir selbst zu wenig zu. Und ich spüre dann: Von einer Zeit nach Corona kann ich nur mit Gott träumen. Ich kann das, weil ich weiß, dass er den Menschen schon so oft ihre Träume zurückgegeben hat. Mir macht es Mut, zu wissen: Er will, dass irgendwann wieder „alles gut“ wird. Das hat er uns versprochen. Wie diese gute Zukunft aussehen wird, kann ich mir noch nicht recht vorstellen. Er aber schon. Und deshalb bleibe ich gespannt. Am Ende will ich eine von den Alten sein, die dasitzt und von ihrem Glück erzählt. Und ich hoffe, dass dann selbst die Zeit, in der ich jetzt lebe, dazugehört. Und sei es nur, weil ich erzählen kann, dass ich nicht allein da durchmusste. Das wäre wirkliches Glück.

In diesem Sinne – süße Träume!

Ihre Pfarrerin Isabella Bigl